Mittwoch, 24. August 2011

The Walk - Selbstversuch I


Wer sich für aktuelle Bestseller interessiert, wird in den letzten Monaten vielleicht auch dem neu aufgelegten Roman von Hans Fallada „Jeder stirbt für sich allein“ in den Buchläden und Büchereien begegnet sein. Fallada legte seinem Roman die wahre Geschichte eines Ehepaares aus Berlin zugrunde, das sich nach dem Tod des einzigen Sohnes auf rührende und etwas naive Weise als Widerstandskämpfer im 2. Weltkrieg versucht. Hans Fallada hatte das Thema auf Vorschlag seines Verlegers zunächst nur ungern angenommen, da er sich für seine eigene Trägheit zur Zeit des Naziregimes schämte. Er entschloss  sich aber –glücklicherweise- ein Zeitzeugnis zu schaffen, dass uns im Grunde noch immer verwirrten und schuldbelasteten Deutschen und der Welt gerade heute zeigen kann, dass Widerstand sehr wohl  versucht wurde, die allermeisten ihn aber teuer bezahlten.

Etwa ein Drittel des Romans spielt im Gefängnis. Was mich hier am meisten beeindruckt, ist der ungeheure Mut und Lebenswille, den einige der zum großen Teil zum Tode oder zu unendlich langen Haftstrafen Verurteilten aufbrachten und ihr Leben in der Gefängniszelle auf irgendeine Art gestalteten.


Unter ihnen einer, der seinen Tagesablauf genau strukturierte. Morgens gründliches Waschen unter primitivsten Bedingungen in der engen Zelle. Frühstück, wenn es welches gab. (Die Wärter „dachten“ wohl manchmal nicht dran.) Schließlich eine Stunde Auf- und Abgehen in der Zelle. 3,5 Schritte hin und 3,5 Schritte zurück. In dem schmalen Gang zwischen den zwei Pritschen. Mehr Platz gab es ja auch nicht. Dann einige Stunden am Tisch sitzen, lesen, schreiben. Was eben möglich war. Und das alles in Anwesenheit des Mitgefangenen. Abends wieder eine Stunde Auf-und Abgehen.

Auch wenn es einem Roman entnommen ist, vermute ich, dass Hans Fallada hier Recherche „am lebenden Objekt“ betrieben hat, unter anderem vielleicht auch während seines eigenen Zuchthausaufenthaltes. Jedenfalls interessiert mich dieses Verhalten, dass Struktur gibt und Disziplin verlangt.

In einem Selbstversuch teste ich nun, was genau passiert, wenn ich eine Stunde lang in einem kleinen Zimmer, das ich in und auswendig kenne, auf- und abgehe. Zunächst mal komme ich mir selbstverständlich blöd vor. Auf dem Handy läuft die Stoppuhr und ich sehe häufig hin, wie viel Zeit denn wohl schon vergangen ist. Die Gelenke protestieren auf den harten Holzdielen. Geben schließlich auf, sind warmgelaufen oder so. Mein Blick suchte Interessantes und findet nicht viel, da wie gesagt schon alles millionenmal gesehen ist. Eine Stunde erscheint lang, wenn man etwas sehr langweiliges zu tun hat. Vermeintlich langweilig. Ich stecke mir die Haare hoch, sie stören mich. Ich öffne das Fenster. Mir ist nach frischer Luft, Sauerstoff. Ob die wohl in der Zelle das kleine Fensterchen öffnen konnten? Wenn sie eins hatten?

Inzwischen gehe ich fast wie ein Zinnsoldat, steif, gradlinig, wie in Reih und Glied. Ernst. Später immer runder. Tanzend. Eine Szene aus dem „Club der toten Dichter“ fällt mir ein. Überhaupt fließen die Gedanken auf einmal. Schnell. Voller Bilder, weiß nicht, wo die auf einmal herkommen.

Eine andere Stimmung zieht auf, es wird langweilig, ich bin müde. Mag nicht mehr. Aber es hilft nichts, ich gehe weiter. Disziplin. Nicht aufgeben. Schließlich baue ich am jeweiligen Ende meiner immerhin 6 Schritte eine Drehung ein, die recht schwungvoll auf einem Bein vollzogen wird. Ich trage kleine graue, söckchenartige Dinger, die fast wie Ballettschläppchen anmuten. Vielleicht deshalb. Es bewegt sich doch. Der Mensch ist so anpassungsfähig.

Eine Zeitlang falle ich in eine Art Trance. Denke nichts. Nur gehen. Drehen, gehen, drehen. Eine Art Meditation, flow, irgendsowas. Ich denke an die, die in den KZ s waren. Die nicht mal mehr die Freiheit hatten auf und ab zu laufen. Arbeiten bis zur völligen Erschöpfung, körperliche und seelische Gewalt, Grausamkeit, zu dritt auf einer Pritsche. Nie mehr frei. Da mutet es wirklich wie Freiheit an, die paar Schritte gehen zu dürfen. Eine Stunde, zwei, jeden Tag, eine Art Luxus im Irrsinn der Gefangenheit.

Nach einer dreiviertel Stunde fühle ich mich gut, ich laufe ohne darüber nachzudenken, denke mir verschiedene Gangarten aus, tänzel, gehe auf Zehenspitzen. The Ministry of Silly Walks. Ich lache, freue mich. Wohl sowas wie Lebensfreude. Die Zeit ist auf einmal um. Leichtes, angenehmes Ziehen in den Oberschenkeln. Mir ist warm. Ich setze mich. Vermutlich ahne ich nicht im Geringsten, wie einem zumute ist, der in einer Zelle versucht zu überleben, was nicht zu überleben ist. Aber ich ahne, dass gerichtete Aktivität einen Beitrag leistet nicht durchzudrehen. Struktur, geplantes Vorgehen, Bewegung helfen, die Gedanken abzulenken, müde zu werden, den Körper zu spüren in Enge und Not.

Viele von denen waren ja nicht mal im Widerstand. Wurden eingesperrt, gefoltert und entwürdigt, wegen nichts. Weil sie etwas mitgehört hatten. Zufällig irgendwo waren. Zu Geständnissen gezwungen wurden. Gestanden unter Druck und Gewalt etwas, von dem sie vielleicht nicht mal wussten, was es war. Unterschrift. Abführen. Eigentlich vollkommen unschuldig im Angesicht des riesigen Verbrechens. Zu der Zeit lebte jeder in Angst, verraten zu werden. Auch wenn er nur getan hatte, was jeder gesunde, überlebenswillige Mensch getan hätte.

Vermutlich gibt es auch heute viel mehr Menschen als ich ahne, die ihre Zimmer selten oder nie verlassen. Weil sie eine Examensarbeit schreiben, für Prüfungen lernen, Bücher schreiben. Oder Angst haben. Oder alt sind. Vielleicht gehen viele von ihnen ganz selbstverständlich von Zeit zu Zeit im Zimmer auf und ab. Es soll ja auch beim Einprägen von Lerninhalten helfen. Oder beim Problemlösen. Oder wenn eines einfach nicht mehr sitzen mag. Also, Menschen an den Schreibtischen! Stehen wir auf und gehen etwas herum. Es kostet nichts und gibt viel.

Donnerstag, 18. August 2011

Man weiß, mit welchem Nutzen die Nationen ihre Geschichte aufzeichnen. Den gleichen Nutzen hat auch der einzelne Mensch von der Aufzeichnung seiner Geschichte. Me-Ti sagte: Jeder möge sein eigener Geschichtsschreiber sein, dann wird er sorgfältiger und anspruchsvoller leben. (Berthold Brecht)